Sternentaler
Weihnachten in der Speisekammer
Der Wegweiser
Es war einmal ein kleines Mädchen, das schon sehr früh Vater und Mutter verlor. Das kleine Mädchen war so arm, dass es keine Kammer mehr hatte, darin zu wohnen und kein Bettchen, um darin zu schlafen, und gar nichts mehr hatte, als die Kleider auf dem Leib und ein kleines Stück Brot in der Hand, das ihm ein barmherziger Mensch gegeben hatte. Das Mädchen hatte aber ein gutes Herz, und weil es von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus auf das Feld.
Da begegnete ihm ein ein armer Mann, der sagte: "Ach, gib mir bitte etwas zu essen, ich bin so hungrig." Das kleine Mädchen reichte ihm sein Stück Brot und sagte: "Gott segne es Dir", und ging weiter.
Da kam ein Kind, das jammerte und sagte: "Es friert mich so an meinem Kopfe, schenke mir etwas, womit ich ihn bedecken kann." Da nahm das kleine Mädchen seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Hemdchen an und fror: da gab es ihm seines; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab das kleine Mädchen auch von sich hin.
Endlich gelangte das kleine Mädchen in den Wald. Es war schon dunkel geworden, da kam noch ein Kind und bat um ein Hemdchen, und das brave, fromme Mädchen dachte: "Es ist dunkle Nacht, da sieht mich niemand und ich kann wohl mein Hemd weggeben", und zog das Hemd aus und gab es noch hin.
Und wie das kleine Mädchen so da stand und überhaupt nichts mehr an hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und es waren lauter harte goldene Taler. Und obwohl es sein Hemdchen weggegeben hatte, hatte es nun ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen, und da sammelte es sich dann alle Taler ein. Und das Mädchen war reich für sein Lebtag!
In Anlehnung an ein Märchen der Gebrüder Grimm
Weihnachten in der Speisekammer
Unter der Türschwelle war ein kleines Loch. Dahinter saß die Maus Kiek und wartete. Sie wartete bis der Hausherr die Stiefel aus- und die Uhr aufgezogen hatte; sie wartete, bis die Mutter ihr Schlüsselkörbchen auf den Nachttisch gestellt und die schlafenden Kinder noch einmal zugedeckt hatte; sie wartete auch noch, als alles dunkel war und tiefe Stille im Hause herrschte. Dann ging sie.
Bald wurde es in der Speisekammer lebendig. Kiek hatte die ganz Mäusefamilie benachrichtigt. Da kam Miek die Mäusemutter mit den fünf Kleinen, und Onkel Grisegrau und Tante Fellchen stellten sich auch ein.
"Frauchen, hier ist etwas Weiches, Süßes," sagte Kiek leise vom obersten Brett herunter zu Miek, "das ist etwas für die Kinder," und er teilte von den Mohnpielen aus. "Komm hierher Grisegrau," piepste Fellchen, und guckte hinter der Mehltonne vor, "hier gibt's Gänsebraten, vorzüglich, sag ich dir, die reine Hafermast; wie Nuss knuspert sich's." Grisegrau aber saß in der neuen Kiste in der Ecke, knabberte am Pfefferkuchen und ließ sich nicht stören. Die Mäusekinder balgten sich im Sandkasten und kriegten Mohnpielen. "Papa," sagte das größte, "meine Zähne sind schon scharf genug, ich möchte lieber knabbern, knabbern hört sich so hübsch an." "Ja, ja, wir wollen auch lieber knabbern," sagte alle Mäusekinder, "Mohnpielen sind uns zu matschig," und bald hörte man sie am Gänsebraten und am Pfefferkuchen. "Verderbt euch nicht den Magen," rief Fellchen, die Angst hatte, selber nicht genug zu kriegen, "an einem verdorbenen Magen kann man sterben." Die kleinen Mäuse sahen ihre Tante erschrocken an; sterben wollte sie ganz und gar nicht, das musste schrecklich sein. Vater Kiek beruhigte sie und erzählte ihnen von Gottlieb und Lenchen, die drinnen in ihren Betten lägen und ein hölzernes Pferdchen und eine Puppe im Arm hätten; und dass in der großen Stube ein mächtiger Baum stände mit Lichtern und buntem Flimmerstaat, und das es in der ganzen Wohnung herrlich nach frischem Kuchen röche, der aber im Glasschrank stände, und an den man nicht heran könnte. "Ach," sagte Fellchen, "erzähle nicht so viel, lass die Kinder lieber essen." Die aber lachten die Tante mit dem dicken Bauch aus und wollte noch viel mehr wissen, mehr als der gute Kiek selbst wusste. Zuletzt bestanden sie darauf, auch einen Weihnachtsbaum zu haben, und die zärtlichen Mäuseeltern liefen wirklich in die Küche und zerrten einen Ast herbei, der von dem großen Tannenbaum abgeschnitten war. Das gab einen Hauptspaß. die Mäusekinder quiekten vor entzücken und fingen an, an dem grünen Tannenholz zu knabbern; das schmeckte aber abscheulich nach Terpentin, und sie ließen es sein und kletterten lieber in dem Ast umher. Schließlich machten sie die ganze Speisekammer zu ihrem Sielplatz. Sie huschten hierhin und dorthin, machten Männchen, lugten neugierig über die Bretter in alle Winkel hinein, und spielten Versteck hinter den Gemüsebüchsen und Einmachtöpfen; was sollten sie auch mit dem dummen Weihnachtsbaum, an dem es nichts zu essen gab! Als aber das kleinste ins Pflaumenmus gefallen war und von Mama Miek und Onkel Grisegrau abgeleckt werden musste, wurde ihnen das Umhertollen untersagt, und sie mussten wieder artig am Pfefferkuchen knabbern.
Am andern Morgen fand die alte Köchin kopfschüttelnd den Tannen Ast in der Speisekammer und viele Krümel und noch etwas, was nicht gerade in die Speisekammer gehört, ihr werdet euch schon denken können was! Als Gottlieb und Lenchen in die Küche kamen, um der alten Marie guten Morgen zu wünschen, zeigte sie ihnen die Bescherung und meinte: "Die haben auch tüchtig Weihnachten gefeiert." die Kinder aber tuschelten und lachten und holten einen Blumentopf. Sie pflanzten den Ast hinein und bekränzten ihn mit Zuckerwerk, aufgeknackten Nüssen, Honigkuchen und Speckstückchen. die alte Marie brummte; da aber die Mutter lachend zuguckte, musste sie schon klein beigeben. Sie stellte alles andere sicher und ließ den kleinen Naschtieren nur ihren Weihnachtsbaum. die Kinder aber jubelten, als sie am zweiten Feiertage den Mäusebaum geplündert vorfanden und hätten gar zu gern auch ein Dankeschön von dem kleinen Volke gehört. "Den guten Speck vergesse ich mein Lebtag nicht," sagte Fellchen, und Grisegrau biss eine mitgebrachte Haselnuss entzwei; Kiek und Miek aber waren besorgt um ihre Kleinen, die hatten zuviel Pfefferkuchen gegessen, und ihr wisst, liebe Kinder, das tut nicht gut!
Paula Dehmel (1862 bis 1918)
Der Wegweiser
Da, wo die Landstraße mit noch einer anderen Landstraße zusammentraf, gerade an der Ecke auf der Wiese, stand ein Wegweiser. Es streckte seinen beiden hölzernen Arme aus, der eine zeigte auf die eine, der andere auf die andere Landstraße, und auf jedem der beiden Arme stand geschrieben, wohin die Landstraße führte und wie weit der Weg bis dahin noch sei.
Nach Finkenbach 3 km
Nach Walddorf 5 km
Es war gut, dass der Wegweiser da stand. Denn wer hätte den Leuten, die auf der Landstraße daherkamen und nicht wussten, ob sie gerade oder nach rechts gehen mussten, den Weg zeigen sollen? Um den Wegweiser herum, auf der Wiese, standen die allerschönsten Blumen. Im Frühling Himmelsschlüsselchen, im Sommer Vergissmeinnicht, Butterblumen und weiße Margareten. Durch die Wiese floss ein kleiner Bach, über den Blumen flatterten gelbe, braune, und blaue Schmetterlinge, und die kamen auch zu dem Wegweiser zu Besuch und setzten sich auf seine Arme. Aber denen allen brauchte der Wegweiser den Weg nicht zu zeigen; sie wussten ihn schon von ganz alleine. Auch den Vögelchen nicht, die ihn besuchten. "Tschip tschip - was stehen Sie eigentlich hier immerzu wie ein Storch auf einem Bein, mit ausgebreiteten Flügeln?" fragte ihn einmal ein frecher Spatz. "Haben Sie kein Nest und keine Jungen, die Sie füttern müssen?" "Ich zeige den Menschen den richtigen Weg", sagte der Wegweiser. "Tschip tschip tschip - richtigen Weg zeigen! Müssen die Menschen dumm sein! Ich finde ihn immer", sagte der Spatz. Der Wegweiser antwortete nichts. Er dachte sich sein Teil. Er unterhielt sich lieber mit den Sonnenstrahlen, mit dem Mond und den glitzernden Sternlein, die des Abends über ihm standen. Ja - der Mond und die Sterne, das waren seine ganz besonderen Freunde. Still standen sie wie er und zeigten auch den Leuten den richtigen Weg. Und der Mondschein, der warf ihm einen silbernen Mantel um, sagte ihm, nun sähe er aus wie ein Märchenprinz, und erzählte ihm Geschichten von seinen Reisen. "Ja - ohne den Mondschein stünde ich doch hier recht einsam", dachte der Wegweiser. Aber er hielt tapfer aus.
Manchmal taten ihm seine Arme ein bisschen weh von dem ewigen Steifhalten. Aber:
Nach Finkenbach 3 km
Nach Walddorf 5 km
Tag für Tag sagte er es den Leuten, die vor ihm stehen blieben und ihn nach dem Wege fragten. Tag für Tag stand er in der glühendsten Hitze, beim schlimmsten Regenwetter und wenn es so kalt war, dass von den Menschen aus den Tüchern und Kapuzen kaum die Nasenspitzen herausguckten.
Manchmal rüttelten und schüttelten die Herbst- und Winterstürme an ihm. Sie packten ihn mit aller Gewalt und wollten ihn durchaus auf die Erde werfen. Aber fest blieb der Wegweiser auf einem Bein in der Erde stehen. "Nein - ich darf nicht umfallen - ich muss stehen bleiben und den Menschen den richtigen Weg zeigen. Das ist meine Arbeit auf dieser Welt", sagte er.
Eines Morgens tanzten weiße Schneeflocken um ihn herum. Die woben - ganz heimlich und leise - aus tausend winzigen Glitzersternchen ein Krönlein und setzten es dem Wegweiser auf. Niemand auf der Erde merkte, dass es eine Krone war. Aber der Mond und die Sterne die wussten es. (Sophie Reinheimer (1874 bis 1935))